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Pierre Bühler | Die Spannung zwischen Legalität und Legitimität: eine heilsame Herausforderung

«Gesetz ist Gesetz!»: Wer hat nicht mindestens einmal schon diesen Ausspruch gehört, der wie ein Hammerschlag fällt?  Aber was bedeutet denn genau diese massive Behauptung? Kann das Gesetz sich so abkapseln und sich zur letzten Instanz erklären? Die paar folgenden Seiten versuchen, diese Fragen zu beantworten. Sie führen mich dazu, auf das Thema «Legalität und Legitimität» einzugehen und mich damit – auf unvorsichtige Weise, vielleicht – ins Gebiet der Rechtstheorie hinein zu wagen. Dieses komplexe Thema wurde bereits ausführlich behandelt, unter verschiedenen Gesichtspunkten und in verschiedenen Feldern [1]. In diesem kurzen Aufsatz beschränke ich mich darauf, das Thema unter dem Aspekt des Verhältnisses zwischen Zivilgesellschaft und Rechtssystem im Kontext der Asylpolitik zu behandeln.

Ceci est la version traduite en allemand de l’article de Pierre Bühler « La tension entre légalité et légitimité, un défi salutaire« , paru dans le numéro 168 de la revue Vivre Ensemble. La version traduite a été publiée par Archipel, le journal du Forum Civique Européen, N° 276, p. 3-4.

Um mein Vorgehen zu klären, nehme ich eine pragmatische Haltung ein. In der uns beschäftigenden Spannung stehen drei Adjektive auf dem Spiel: «legal», «legitim» und «loyal». Alle drei haben ihre etymologischen Wurzeln im lateinischen lex, «Gesetz», mit verschiedenen Konnotationen. Ist legal was mit dem Gesetz zu tun hat, was durch es vorgeschrieben wird. Wenn man die Frage nach der Legitimität stellt, nimmt man Abstand und evaluiert die Berechtigung dessen, was legal ist, indem man überlegt, in wessen Namen die Forderung gestellt wird. Die Loyalität betrifft die Haltung, den Geist, in dem man sich dem Gesetz gegenüber verhält. Auf Grund dieser rudimentären Definitionen formuliere ich die Frage, die mich umtreibt, folgendermassen: Ist es loyal, zu überlegen, ob das, was legal ist, auch immer legitim ist?

Dessin de Herji pour Vivre Ensemble, paru dans le numéro 168 de juin 2018

Das Gute und das Begrenzte an der Legalität

Im griechischen Ideal des Stadtwesens ist die frei eingewilligte Unterwerfung aller unter das Gesetz unerlässlich, und so wird Freiheit im Respekt vor dem Gesetz erlebt, und nicht gegen es. Dieses Ideal hat die moderne Idee der Demokratie geprägt, die auf dem Prinzip des Gesellschaftsvertrags gründet: Eine legale Basis des Zusammenlebens, in Übereinstimmung festgelegt, stärkt die soziale Zusammengehörigkeit und das gegenseitige Vertrauen. In diesem Sinne ist Legalität eine Wohltat. All die, welche unter einer Diktatur oder in einem korrumpierten Regime gelebt haben, wissen ganz besonders darum. Dass wir in demokratischen Rechtsstaaten leben dürfen, sollte uns dankbar machen.

Man muss jedoch auch die Grenzen der Legalität unterstreichen. Als Jean-Jacques Rousseau in seinem Traktat Vom Gesellschaftsvertrag gesetzt hat, der allgemeine Wille könne nie irren, hat er sich geirrt. In den demokratischen Prozessen der parlamentarischen Debatten und der Volksabstimmungen sind die Erarbeitung und Anwendung der Gesetze komplexen Machtspielen ausgesetzt, und die Gesetze erweisen sich als schwach, manipulierbar, biegen sich nach verschiedenen Interessen. So wurde das schweizerische Asylgesetz, das 1979 eingeführt wurde, gut dreissig Teil- oder Totalrevisionen unterworfen (es heisst, dass kein anderes Schweizer Gesetz in so kurzer Zeit so oft revidiert wurde!). Unter verschiedenen Einflüssen, sowohl der Parteien als auch der Bevölkerung, wurde es, in vielen Hinsichten, zu einem Ausnahmegesetz.

Ein hartes Modell: Was legal ist, ist auch legitim

Im Sinne des am Anfang zitierten Ausspruches besteht ein erstes Modell – dem man heute recht oft begegnet – in der Behauptung, dass die Legalität wie sie im geltenden Rechtssystem gegeben ist auch die Legitimität definiert. Eine solche Position, die man als Rechtspositivismus bezeichnen kann, erlaubt keinen Verweis auf eine andere Dimension, die jenseits der Legalität wäre. Das Gesetz kapselt sich ab, so dass es gleich unloyal ist, die Legitimität dessen, was als legal festgelegt ist, zu prüfen. Ganz und gar loyal ist nur, wer die Legitimität der Legalität nie hinterfragt.

In der Zivilgesellschaft schürt eine solche Abkapselung die Angst davor, das Gesetz in Frage zu stellen, und das fördert die Tendenz, sich in Situationen, in denen das Gesetz Ungerechtigkeit stiftet, herauszuhalten, passiv zu werden. Diese Passivität lässt sich dadurch rechtfertigen, dass man ein relativ naives Vertrauen in die Obrigkeiten und die Gesetze in Anspruch nimmt (ein Diskurs, der zum Beispiel in den Kirchenleitungen recht verbreitet ist).

Ein offenes Modell: Was legal ist, ist damit nicht schon legitim

Wie andere Rechtsphilosophen betont, John Rawls [2], auf den ich mich hier berufe, dass ein Rechtssystem immer nur fast gerecht ist. Es ist in verschiedenen hierarchisierten Ebenen aufgebaut: Eine Verfassung wird in eine Gesetzessammlung übertragen, die dann zu Anwendungen führt, mit denen man konkrete Entscheidungen rechtfertigt. Zwischen diesen Ebenen können jedoch immer Abweichungen entstehen: Ein Gesetz kann ein verfassungswidriges Element enthalten, und eine Entscheidung kann von dem abweichen, was gesetzlich festgelegt ist, usw. Das stellt auf eine radikale Weise das Problem der Legitimität, und um es zu behandeln, muss man sich auf eine höhere Ebene beziehen. Es geht nicht nur um Gefühle oder Überzeugungen, religiöser oder ideologischer Art. Es betrifft die Grundprinzipien, die den Rechtsstaat in seiner konkreten Gestaltung binden, das heisst die Rechts- und Ethiknormen, die in Erklärungen und Konventionen festgelegt sind, welche als zwingend und nichtverhandelbar anerkannt werden. Weil diese Position manchmal aus philosophischer Perspektive dem positiven Recht das Naturrecht entgegenhält, kann man von einem Jusnaturalismus sprechen.

In diesem Modell bilden die Grundprinzipien eine kritische Instanz, die es erlaubt, die Legitimität der Verfassung, der Gesetze und ihrer Anwendungen zu evaluieren, und es ist nicht bereits unloyal, diese kritische Prüfung zu vollziehen. Ganz im Gegenteil: Es ist gerade loyal, den Rechtsstaat an seine Rechts- und Ethikprinzipien zu erinnern, wenn er in seinem Rechtssystem davon abweicht. Im Asylbereich ist es nicht unloyal, sondern sehr loyal, die Anwendung der Dublin-Abkommen anzuprangern, wenn sie die Europäische Menschenrechtskonvention und die Internationale Kinderrechtskonvention verletzt [3].

In diesem offenen Modell bildet die Spannung zwischen Legalität und Legitimität eine heilsame Herausforderung, weil sie zu einer ständigen Überprüfung des Rechtsstaats zwingt. Nebenbei sei hier erwähnt, dass eine Initiative, über die das Schweizer Volk am 25. November wird abstimmen müssen, mit dem Titel «Schweizer Recht anstatt fremde Richter», diese Überprüfung zu verhindern versucht, indem sie dem Schweizer Recht vor den internationalen Konventionen den Vortritt gibt.

Für die Zivilgesellschaft: Wachsamkeit als kritische Loyalität

Die Stimmenthaltung ist unter den Bürgerinnen und den Bürgern stark verbreitet. Die Argumente sind vielfältig: Ermüdung, Ohnmachtsgefühl, die Komplexität der Vorlagen oder das Gefühl, die eigene Stimme wäge relativ wenig, usw. Die Möglichkeit, die Legitimität in den demokratischen Prozessen des Rechtsstaats kritisch zu überprüfen, könnte dem entgegenwirken. Sie enthält nämlich einen stimulierenden Appell zur ständigen Wachsamkeit. Es liegt in der Verantwortung einer jeden Bürgerin und eines jeden Bürgers, diese kritische Loyalität auszuüben. Aus Müdigkeit die Dinge geschehen zu lassen, ist unloyal. Hingegen ist die Bemühung, die Spannung zwischen Legalität und Legitimität auf sich zu nehmen, höchst loyal. Sie hat mit zivilem Mut zu tun [4], der sich einem ängstlichen Respekt vor der Legalität entgegenstellt. Diese Haltung wird die Solidarität und das Mitgefühl in der Zivilgesellschaft stärken, die Bürgerinnen und Bürger dazu anspornen, sich für die Menschen einzusetzen, die aus Mangel an Solidarität und Mitgefühl seitens des Staates ungerecht behandelt werden [5].

Raum für zivilen Ungehorsam

Wie es John Rawls detailliert erläutert hat, enthält das soeben beschriebene offene Modell auch, wenn man vernünftigerweise erachten kann, alle legalen Protestmittel erschöpft zu haben, die Möglichkeit eines Aufrufs an den Rechtsstaat durch zivilen Ungehorsam [6]. Verschiedene andere Autoren haben diesen Weg begangen, wie ein soeben erschienener deutscher Textband zeigt, dessen Textauswahl von Henry David Thoreau zur Occupy-Bewegung gehen, über Mahatma Gandhi und Martin Luther King, aber auch Hannah Arendt und Jürgen Habermas [7].

In unterschiedlichen Formen besteht der zivile Ungehorsam darin, dass öffentlich und gewaltlos ein illegaler Akt vollzogen wird, der gegen eine unerträgliche Verletzung der Grundprinzipien protestiert. Er nimmt eine Legitimität gegen die Legalität in Anspruch,  und bezeugt damit – momentan gegen den Staat – eine Sorge, die grundsätzlich die Sorge dieses Staates sein sollte. Dadurch übt er in extremer Form, aus letzter Begründung (ultima ratio), kritische Loyalität aus.

In Sachen Asyl ist für die Kirchen eine mögliche Form des zivilen Ungehorsams das Kirchenasyl: Es besteht darin, Asylbewerberinnen und -bewerber zu beherbergen, die durch Entscheidungen der staatlichen Instanzen in ihrer physischen oder psychischen Integrität bedroht werden. Es gibt für eine solche Praxis seit der Neuzeit keine legale Basis mehr, aber sie kann eine ethische Legitimität beanspruchen, im Namen der internationalen Konventionen, die die Rechte der Flüchtlinge schützen [8].

Zum Abschluss : die Erbschaft des Augias an seinen Sohn

Am Ende seines Theaterstücks Herkules und der Stall des Augias, nachdem Herkules gescheitert ist, weil die vielen Kommissionen und Unterkommissionen ihn daran hindern, die Schweiz auszumisten, gibt Dürrenmatt dem Augias das Wort, der seinem Sohn den geheimen Garten zeigt, in dem er Mist in Humus verwandelt hat. Diese Aufgabe wird nun mit folgenden Worten dem Sohn anvertraut:

«Ich verwandelte Mist in Humus. Es ist eine schwere Zeit, in der man so wenig für die Welt zut un vermag, aber dieses Wenige sollen wir wenigstens tun: das Eigene. […] So sei denn dieser Garten dein. Schlag ihn nicht aus. Sei nun wie er: verwandelte Ungestalt. Trage du nun Früchte. Wage jetzt zu leben und hier zu leben: mitten in diesem gestaltlosen, wüsten Land, nicht als ein Zufriedener, sondern als ein Unzufriedener, der seine Unzufriedenheit weitergibt und so mit der Zeit die Dinge ändert: die Heldentat, die ich dir nun auferlege, Sohn, die Herkulesarbeit, die ich auf deine Schultern wälzen möchte.» [9]

PIERRE BÜHLER

[1] Als Beispiele seien hier erwähnt: Josiane Boulad-Ayoub (Hg.), Souveraineté en crise, Québec, L’Harmattan/Presses de l’Université Laval, 2003, vor allem S. 71-80; Milena Mateva, Légitimité et légalité. Considérations (sur la loi et la justice) à l’image de deux grands procès politiques, Diss., Neuchâtel, Université de Neuchâtel, 2006 ; Bjarne Melkevik, Habermas, légalité et légitimité, Québec, Presses de l’Université Laval, 2012; ausführlich reflektiert wird diese Frage ebenfalls in den Artikeln «Légalité» und «Légitimité» in der Encyclopaedia universalis.

[2] John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (A Theory of Justice, 1971), deutsch übersetzt von H. Vetter, Frankfurt a. M., Suhrkamp (stw 271), 1979.

[3] Verschiedene Petitionen, mit Tausenden von Unterschriften versehen, haben in letzter Zeit versucht, die hierin waltende, legalistische Blindheit der Eidgenossenschaft und der Kantone zu bekämpfen.

[4] Im vergangenen Jahr hat Greenpeace eine Nummer seiner französischsprachigen Zeitschrift Greenpeace Member (2017/Nr. 4) dem Thema «Le courage civique» (ziviler Mut) gewidmet, in ökologischen Implikationen konkretisiert.

[5] Die Dublin-Abkommen enthalten eine «Klausel des Selbsteintrittsrechts» : Sie erlaubt einem Staat, auf die Zurückweisung einer Asylbewerberin oder eines Asylbewerbers in das Land der ersten Aufnahme zu verzichten und den Asylantrag selbst zu behandeln, «insbesondere aus humanitären Gründen oder in Härtefällen» (Art. 17; auf Englisch: «on humanitarian and compassionate grounds»). Wie man es in der Zeitschrift Vivre ensemble lesen konnte, hat die Schweiz in den Tausenden von in den letzten Jahren behandelten «Dublin-Fällen» nur äusserst selten diese Klausel des Selbsteintrittsrechts angewandt.

[6] Vgl. Rawls (Anm. 2), §§ 55-59, S. 399-430.

[7] Andreas Braune (éd.), Ziviler Ungehorsam. Texte von Thoreau bis Occupy, Stuttgart, Reclam, 2017. Vgl. auch Simone Zurbuchen, «Droits humains et désobéissance civile. Réflexions philosophiques sur les Églises comme lieux d’asile », Revue de théologie et de philosophie 149 (2017), S. 355-364.

[8] Zu diesem Punkt, vgl. Muriel Beck Kadima/Jean-Claude Huot (Hg.), Kirche und Asyl. Legitimer Widerstand im Rechtsstaat?, Zürich/Bern-Lausanne, NZN Buchverlag/Institut für Sozialethik des SEK, 1996.

[9] Friedrich Dürrenmatt, Werkausgabe in siebenunddreissig Bänden, Zurich, Diogenes, 1998, Band 8, S. 116.